Die 60er Jahre in Bad Pyrmont
Fotografien von Heinrich Mehring

Vor vier Jahren hat das Museum im Schloss Bad Pyrmont eine stark beachtete Ausstellung mit Fotografien von Linda McCartney, der ersten Ehefrau des Beatles Paul McCartney gezeigt. Mit dem Thema »Die 60er Jahre — Porträt einer Ära« lockten die Bilder einer ganzen Generation von Musikstars viele Besucher in die Ausstellungsräume des Schlosses. Natürlich lag es an dem Namen der berühmten Fotografin und an ihrer Wahrnehmung der Musikszene in London und New York, natürlich lag es an den abgebildeten Ikonen einer Musikgeneration, die damals das Leben der Jugend völlig auf den Kopf stellten. Natürlich haben die Besucher unserer Ausstellung über diese Fotografien auch ihre eigene Vergangenheit gesucht und dennoch war es erstaunlich, wie viele junge Menschen heute wieder von dieser 60er Jahre-Epoche fasziniert waren. Aus Sicht des Museums hatte sich einmal mehr bewiesen, dass das Museum ein Ort des Erinnerns sein kann.

Eben auf Grund dieser Erfahrung hat das Museum im Schloss Bad Pyrmont aus Anlass der Linda McCartney-Ausstellung die Leser der Pyrmonter Nachrichten aufgefordert, sich an die 60er Jahre in Bad Pyrmont zu erinnern. Was hat sich damals verändert, was sind bleibende Erinnerungen für den Einzelnen? Es gab eine Vielzahl interessanter persönlicher Antworten, aber eine Reaktion aus dem weit entfernten Bergisch Gladbach hatte mich sehr neugierig gemacht.

Heinrich Mehring, der 1965 das Abitur an unserem Humboldt-Gymnasium absolviert hat, schrieb mir einen interessanten Brief und fügte eine CD mit bemerkenswerten Schwarz-Weiß-Fotografien bei, die in Bad Pyrmont in der Zeit von 1963-1969 entstanden sind. Diese Fotos, überwiegend aufgenommen mit der Rolleiflex, bildeten einen wahren Schatz. Sie dokumentierten nicht nur Entwicklungen unserer Stadt und den 60er Jahren, sie erzählten nicht nur von Menschen und Ereignissen in Bad Pyrmont, sondern sie waren auch geprägt von einer hohen künstlerischen Qualität.

So entstand das Projekt »Die 60er Jahre in Bad Pyrmont«, das natürlich nicht in Konkurrenz treten kann zu Linda McCartney's Lebenswelt, das aber den Blick lenken kann auf das doch zeitgleiche Leben in einer kleinen, durch den Kurbetrieb ganz besonderen Ort im Weserbergland.

Heinrich Mehrings Fotografien sind in der Tat ein einzigartiges Zeugnis der 60er Jahre in Bad Pyrmont, betrachtet und abgelichtet natürlich aus Sicht eines jungen Menschen. Mehr als 100 ausgewählte Fotografien in dieser Ausstellung erlauben eine Rückerinnerung an eine Zeit, die für die Generation der jungen Menschen nach dem 2. Weltkrieg vielleicht die entscheidendste Umbruchsituation war. Die 6o0r und die erste Hälfte der 70er Jahre gelten als Zeichen des Wandels in der deutschen Nachkriegsgeschichte.

Während die 60er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland von Wiederaufbau, Wirtschaftswunder und Festigung des Staatswesens geprägt waren, brachte das folgende Jahrzehnt erste Wirtschaftskrisen, einen Elitenwechsel, den Jugendprotest, die Politisierung der Bevölkerung sowie gesellschaftliche Reformen. Für die Jugend war in Deutschland die englische Rockmusik Anfang der 60er Jahre das Signal für den Wandel ihrer traditionellen Verhaltensformen. Vorboten dieser Veränderung war natürlich in den späten 60er Jahren die Rockmusik mit legendären Künstlern wie Bill Haley und Elvis Presley. Die deutschen Rundfunksender, hier im Weserbergland der NWDR, hielten sich mit der Übertragung solcher Musik gänzlich zurück. Aber in Bad Pyrmont waren die Jugendlichen privilegiert dadurch, dass sie sowohl BFBS als auch AFN hören konnten und ebenfalls Soldaten beider Armeen kennen lernten. Damals liefen Filme, die das Gefühl der Rockmusik transportierten, etwa »Saat der Gewalt« oder »Pulverdampf und heiße Lieder« in einem Kino namens Stern in Holzhausen. Dennoch hatte die britische Variante des Rock es dann auch leichter, sich bei der jungen Generation durchzusetzen.

Verkörpert durch die Beatles und die Rolling Stones, verbreitet durch Musikboxen und Musiksendungen, vermittelt diese neue Musik jungen Menschen das Gefühl von Freiheit, den Bruch mit Konventionen. Der Beat wird zum Signal für das neue Bewusstsein der Jugendlichen, das sich gegen die starre Ordnung der Adenauer-Ära wendet. Die Musik ist Anlass für den täglichen familiären Zweikampf um Jeans und Haarpracht.

Auch unter diesem Aspekt lohnt es sich, die Fotografien von Heinrich Mehring auf ihre historische Bedeutung für die 60er Jahre in Pyrmont zu befragen. Bevor nun einige Bilder näher betrachtet werden, ist es sinnvoll, den Fotografen Heinrich Mehring vorzustellen. Er wurde 1944 in Oels (Schlesien) geboren und ist in seiner Jugend als Sohn des Badearztes Heinrich Mehring in Bad Pyrmont aufgewachsen. Er lebte in einer — wie er es nennt — kulturhungrigen Familie und erhielt bereits mit zehn Jahren seinen ersten Fotoapparat, mit zwölf Jahren dann ein Schwarz-Weiß-Labor. Als er 1965 sein Abitur gemacht hat, war seine besondere Liebe zur Fotografie längst fest verankert. Deutlich wurde es damals schon bei seiner Mitarbeit an der Schülerzeitschrift »Der Dreiklang«. Wahrscheinlich war diese freche und engagierte Schülerzeitung des Humboldt-Gymnasiums eine der ersten Publikationen ihrer Art, in der die Fotografie redaktionell eingebunden war.

Heinrich Mehring hat damals als Schüler nicht nur die Zeitschrift mitgeprägt, sondern seine Modefotografien für Susanne Reinecke von der Boutique »Rond Point« für den Düsseldorfer Couturier Kurt Reich sowie für die Pyrmonter CDU zeigen bereits, dass sein fotografisches Können schon entdeckt worden war. So ist es auch nicht verwunderlich, dass ganz allmählich die feste Vorstellung sich entwickelte, Berufsfotograf zu werden. An der Bayerischen Staatslehranstalt für Fotografie in München erlernte er sein Handwerk. Schon während dieser Ausbildung arbeitete er für einen Münchener Werbe- und Industriefotografen und wirkte als freier Fotograf in der Modebranche.

Im Dezember 1969 fing er als Fotograf bei der Bayer AG an, legte 1974 in Köln seine Meisterprüfung ab und übernahm 1987 die Leitung der Bayer Fotostudios in Leverkusen. Bis zu seinem Ruhestand im vergangenen Herbst blieb er Mitarbeiter dieses Konzerns und war knapp über vier Jahrzehnte in vielen Tätigkeitsfeldern weltweit an fast allen fotografischen Äußerungen beteiligt. Im Jahre 2000 wurde Heinrich Mehring in die Deutsche Gesellschaft für Photographie berufen. In dieser großen Zeitspanne seines Lebens hat Heinrich Mehring als Fotograf seine Vorstellungen von Fotografie konsequent weiterentwickelt. Aber stets spielt der Mensch im Bild eine zentrale Rolle, stets liebt er es Geschichten zu erzählen und besondere Situationen abzulichten. Erstaunlich, dass all diese Motive schon in den 60er Jahren in Bad Pyrmont erkennbar sind und ihn auf seinem weiteren Weg als Fotografen geprägt haben.

Natürlich fotografiert er in seiner Stadt aus der Sicht eines jungen Mannes, der — genau wie viele andere Schüler seiner Schule — diesen Aufbruch der Jugend spürt. Die für die Schülerzeitschrift »Der Dreiklang« entstandenen Fotos sind ein gutes Beispiel für den jugendlichen Aufbruch, für Humor und Provokation. Wenn man sich erinnert an Gruppenbildern von Schülern, so ist die Fotografie aus  dem Jahre 1964 von vier jungen Männern und drei jungen Frauen schon eine deutliche Abkehr einer starren Selbstdarstellung. Vor dem Altbau des Gymnasiums präsentieren sich die sieben Schüler in einer Körperhaltung, die von Zuneigung und Fröhlichkeit spricht. Man lehnt sich locker gegen einander, ist mit Druck und Gegendruck aufeinander angewiesen und macht es ganz so, wie man es auf den Schallplattenhüllen der englischen Musikidole bewundert. Allerdings sind die Schüler noch relativ unauffällig gekleidet, die Haare haben noch fast die von den Eltern vorgeschriebene Länge, der Bruch mit den Konventionen ist offenbar noch nicht ganz in Bad Pyrmont angekommen. In weiteren Fotografien für den »Dreiklang« kann man ähnliche Gestaltungsmuster sehen, die Heinrich Mehring an seine Motive heranträgt. Er hat aber auch ganz eindringlich und liebevoll das Schulleben beschrieben. Da sind die Lehrer, die großen Schulereignisse wie Sportwettkämpfe oder Prüfungen für das Abitur, da sind die alten und die ab 1964 im Bau befindlichen Neubauten genauso dokumentiert wie das Leben auf dem Schulhof.

Wenn allerdings Heinrich Mehring auf dem Vorsprung des Gymnasium-Altbaus demonstrativ einen Stuhl in die Höhe reckt, dann will er sich aus dem Druck des Schulalltags lösen. Wenn Gunther Windel vor dem Schuleingang des Altbaus mit kurzer Lederhose, Jacket, Schlips und Pudelmütze, mit Sonnenbrille und großer Gestik scheinbar den Zugang verwehrt, dann hat das den Charakter einer Demonstration. Und wenn Sigrid Kruhöffer vor der Klassentafel mit preußischer Pickelhaube posiert und uns selbstsicher betrachtet, aber rechts und links von ihrem Kopf die mit Kreide geschriebenen Worte »Gefühl« und »Unsicherheit« zu lesen sind, dann zeigt es auch die Gefühlswelt der 6oer Jahre für die jungen Menschen. Diese drei vorgestellten Fotografien sind entstanden für die Schülerzeitschrift, sind bewusst inszeniert und erzählen Geschichten, die die Mitschüler erreichen sollten.

Das Wort Inszenierung ist ein Schlüsselwort zum Verständnis der Mehring'schen Fotografie. Heinrich Mehring erinnert sich heute mit folgenden Gedanken: »Für mich war >Inszenierung< ein Weg, den ich bei vielen anderen Fotografen sah und auf dem ich meine >Geschichten< am einfachsten erzählen konnte. Die Mode- und Werbefotografie der 60er, so wie ich sie aus Vogue und Harpers Bazaar kannte, war erfolgreiche Inszenierung und das deutsche Twen mit seinem genialen Artdirektor Willy Fleckhaus tat nichts anderes. Das waren die Einflüsse, die ich aufnahm. Als Fotografen stehen dafür Namen wie Sam Haskins, Charlotte March und David Hamilton.«

Auch beim Ablichten seines Freundeskreises sind viele Ebenen der Bildbetrachtung möglich. Die Fotos der Kellerpartys junger Menschen beschreiben einmal mehr, wonach sich diese Generation in ihrer Freizeit sehnt. Musik und Tanz, Zigaretten und Alkohol — gewissermaßen die Zutaten für das gemeinsame Kommunizieren in dunklen, selbst ausgemalten Kellerräumen. Gunther Windel inszeniert sich in seinem Zimmer mit einer geöffneten Bierflasche, Georg Hoppenstedt stellt sich mit Schlägermütze vor den Eingang seines elterlichen Hauses und beschreibt auf diese Weise auch das Loslösen aus dem elterlichen Haus in der Kampstraße.

Marianne Baumgart und Monika Menzel sind voller Lebensfreude und genießen das Leben auf der Liegewiese der Badeanstalt. Die Fröhlichkeit gerade dieses Bildes spiegelt sich auch in anderen Motiven wieder. Bei dem Titelbild unserer Ausstellung handelt es sich um die Darstellung von Monika Menzel, die aus dem Wasser steigt. Dieses 1963 entstandene Foto erzählt nicht nur von sommerlicher Freizeit der jungen Menschen — die Badeanstalt war genau wie heute der Treffpunkt aller Jugendlichen — sondern das Bild dokumentiert auch vor dem Umbau 1986 die Sportanlage, die 1933 mit dem 10-Meter-Turm angelegt worden war und die alte Flussbadeanstalt ablöste.

Aber unter dem Gesichtspunkt einer rein dokumentarischen Fotografie hat Heinrich Mehring seine Bilder nie verstanden. Abgesehen von der alten Schücking-Villa und dem Pyrmonter Bahnhof haben ihn repräsentative Motive unserer Stadt nur am Rande interessiert. Hier möglicherweise auch nur deshalb, weil sowohl der Bahnhof wie die Schückingvilla abgerissen wurden. Pittoreske Szenen wie etwa die kleinen Häuschen an der Rathausstraße hinter der Brunnenstraße, ein Zeitungskiosk auf der Höhe vom Lutterbrunnen in der Brunnenstraße, im Zerfall begriffene Gebäude in der Schillerstraße oder auf dem Hagen spiegeln eher das Interesse des Fotografen wider als die Bildwelt, mit dem der Kurgast oder Tourist den eleganten Badeort Bad Pyrmont verbindet.

So finden sich in dem Bildarchiv von Heinrich Mehring fast keine Fotos vom Brunnenplatz, vom Kurzentrum oder vom Kurpark. Allein ein Bild des sog. Dreialleenblicks und die Familienidylle beim Füttern von Tauben vor dem Lesesaalgebäude weisen überhaupt auf das Staatsbad Pyrmont hin.

Dennoch schleichen sich ganz en passant Bilder unserer Stadt in die Fotografie von Heinrich Mehring ein.Bei den fröhlichen Umzügen der Abiturklassen durch das Stadtzentrum finden sich als Kulisse viele vertraute Bilder von Gebäuden, die z.T. heute schon Vergangenheit sind. Bei den Modeaufnahmen für die Pyrmonter Boutique »Rond Point« von Susanne Reinecke entstanden zahlreiche Modefotografien, die ganz bewusst als Kulisse oder Hintergrund Pyrmonter Sehenswürdigkeiten vorstellen. So beispielsweise die beiden Brücken über die Emmer an der Bahnhofstraße und an der Dringenauer Mühle, der Bahnhof selbst, die Schlossbrücke oder die Landschaft in den Emmerwiesen und am Königsberg. Diese Modefotografie mit Anita Terschluizen, Susanne Reinecke und anderen demonstrieren einmal mehr, wie geschickt Heinrich Mehring ein Bild in Szene setzen kann. Gleich, ob es ein elegantes Abendkleid in der Schneelandschaft der Emmerwiesen mit Rückenansicht im Spiegel ist oder ein elegant sportliches Kleid den Mittelpunkt bildet einen Blick über die Emmerlandschaft an der Dringenauer Mühle. Weitere Bilder von Menschen in unserer Stadt sind ähnlich gestaltet. Die Konfirmation auf dem Hagen stellt die beiden jungen Mädchen Brigitte Lägner und Marlinde Menzel in ihren schönen Festkleidern absichtsvoll vor die Kirche und dem im Hintergrund parkenden Mercedes.

Das stilllebenartige Bild von Vera Horlohé vermittelt vom Licht des Lampenschirmes her eine intime Stimmung dieser Frau, die intensiv dem Radio lauscht. Menschen in einer besonderen Atmosphäre stellt Heinrich Mehring bei seinen Eindrücken von Pyrmonter Schützenfesten in Holzhausen und auf dem Königsberg vor.

Er beschreibt die Stimmung ohne persönliche Wertung; er versteht diese Veranstaltungen als die herausragenden Feste eines Jahres für alle Generationen. Was junge Leute an diesen Festen so faszinierte, wie Heinrich Mehring hier die Erwachsenenwelt beobachtete, das verdichtet sich in dieser Serie von Fotos auf ganz besondere Weise.

Wenn diese Fotos immer auch von der Kommunikation verschiedener Menschen in verschiedenen Umgebungen erzählen, so sind die Porträts Pyrmonter Kinder und Bürger von ganz besonderer Ausstrahlung. Es ist erstaunlich, in welchem Maße Heinrich Mehring in den Gesichtern von Menschen lesen kann. Das gilt für die Kinderfotos mit André Reinecke, das gilt aber auch für sein Einfühlungsvermögen in die Persönlichkeit seiner Freunde. Mit welcher Intensität wird der heute in Göttingen lebende Künstler Georg Hoppenstedt vorgestellt. Man hat den Eindruck, als hätte Heinrich Mehring seinen Lebensweg schon vorgeahnt. Wie eindrucksvoll sind die Porträts von Michaela Klose, Barbara Schmidt oder Hilde Kreglinger (?), die uns als Betrachter intensiv beobachten und doch zugleich von sich selbst viel preisgeben. Aber am ungewöhnlichsten und beeindruckendsten ist das Porträt des Physik-Nobelpreisträgers Max Born in seinem Arbeitszimmer seines Hauses in der Marcardstraße. Wie hat ein junger Mann es doch verstanden, einen Dialog aufzunehmen mit einem der bedeutendsten Bürger unserer Stadt.

Mit großer Skepsis und gleichzeitig mit großer Neugier betrachtet Max Born vor seiner häuslichen Bücherwand die Aktivitäten des jungen Fotografen. Mehring scheint dies genau zu spüren. Irgendwie gelingt es ihm, in diesem Gesicht und in dieser Körperhaltung deutliche Wesenszüge dieses Mannes festzuhalten, der in seinem gesamten Leben so viele Entwicklungen der deutschen Geschichte erlebt und erlitten hat. Insofern stimmt eine Formulierung von Heinrich Mehring, die er zum Thema Porträt wesentlich später einmal ausgesprochen hat: »Von meinen Anfängen an bis heute beschäftigt mich hauptsächlich der Mensch, sein Bild und die Spuren, die er in seiner Welt hinterlässt«.

Es ist schon erstaunlich, wie stark dieser Gedanke das fotografische Werk des jungen Künstlers bestimmt. Fast immer sind es Menschen, die in seiner Bildwelt einen entscheidenden Zusammenhalt für das gesamte Motiv bilden.

Bleibt nun nach den Porträts von Heinrich Mehring noch die Landschaft als Thema. Sie ist eine Klammer für das städtische wie das ländliche Leben und hat ihre eigenen Gesetze. Auch hier ist es erstaunlich, wie sensibel der junge Fotograf das Thema Natur beschreibt. Die monumentale Eiche an der Straßenecke Schellenstraße und Rathausstraße steht inmitten der städtischen Bebauung sinnbildlich für die verlorene Natur. Dieser Baum, gepflanzt im 19. Jahrhundert, als Sinnbild für Frieden und Freiheit, ist ein Bestandteil einer Stadtlandschaft. Aber selbst in einer verregneten, tristen Stimmung dominiert diese Eiche das gesamte Bild.

Der Dreialleenblick am Rande des Pyrmonter Kurparks, gesehen von der Höhe des Herkulesstandbildes, aus führt tief hinunter in die Weite. Auch hier kein Sonnenschein, sondern wieder strömender Regen. In diesem Bild dominiert der Baumbestand aus dem 18. und 19. Jahrhundert über dem zeichenhaften kleinen Menschen, der die Klosterallee hinabgeht. Diese historischen Alleen, denen man ihr Alter deutlich ansieht, sind Teil einer bedeutenden Parklandschaft aus dem 18. Jahrhundert und stehen für die Geschichte des Badeortes. Die winterliche Landschaft in den Emmerwiesen thematisiert eine andere Form der Erholungslandschaft. Ein Pärchen folgt in dieser verschneiten Landschaft dem Weg durch die Wiesen. Hintereinander gestaffelte Solitärbäume führen den Blick in die Tiefe. Eine gewaltige winterliche Wolkenlandschaft umfängt diese Szene, die wundervoll wie in einem Gemälde komponiert ist.

Bleiben noch die Landschaften auf dem Hagen. Hier ist es eigentlich verwunderlich, dass auf den geschwungenen Wegen Pferdekutschen entlang fahren, dass der Acker noch mit Pferdekraft bearbeitet wird. Es hat fast den Anschein, als wolle Heinrich Mehring mit diesen Bildern eine Zeit fixieren, die es in den 60er Jahren nur noch in Ausnahmefällen gab. Weite Landschaften, das dörfliche Leben sind noch Teil einer Romantik, die so ganz anders atmen als das Leben in der Stadt. Vielleicht sind vor diesem Hintergrund diese Landschaften von einer zeitlosen Schönheit. Und das in einer Zeit, eben den 6oer Jahren, die sich in einem radikalen Umbruch befindet.

Gerade in dieser Sehnsucht liegt ein besonderer Zauber dieser Ausstellung. Heinrich Mehring ist in seinen frühen Fotografien aus den 6oer Jahren immer auf der Suche nach solchen Spuren — und benennt dennoch Umbrüche. »Zu den Spuren, die ich suche, gehört auch immer das, was Menschen in ihrer Welt nicht hinterlassen, sondern zerstören... Ich glaube, meine Trauer um die Schücking-Villa ist greifbar in diesem Bild.«

Mehrings Heimatort Bad Pyrmont ist eine Stadt mit vielen Umbrüchen, ist aber auch ein Ort mit ganz persönlichen Geschichten. Es gelingt Mehring bei seinen Fotografien ganz intensiv, diese Bilder auf wenige Zeichen zu konzentrieren und Spuren wie Übergänge zu visualisieren. In den Bildern stecken Abschied und Hoffnung gleichermaßen. Aber die Kraft der Bilder kann den Betrachter nur erreichen, wenn die künstlerische und technische Qualität stimmt. Dies ist bei jeder unserer ausgestellten Fotografien der Fall. Heinrich Mehring's Fotografien transportieren vor allen Dingen die Stimmung einer Situation oder einer Szene und bauen so eine Brücke zu uns Betrachtern. Nur auf diese Weise entsteht ein Dialog. Wie treffend hat dies der berühmte französische Fotograf Henri Cartier-Bresson (1908-2004) formuliert: »Ein gutes Foto ist ein Foto, auf das man länger als eine Sekunde schaut.«

Bei Heinrich Mehring's Fotografien, dies ist zumindest mein Eindruck, möchte man den Blick gar nicht mehr abwenden.

Dr. Dieter Alfter
 

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